Belgisch-Deutscher Konvent 2025
Wenn die Welt verrücktspielt…
Vom Umgang mit den Krisen der Demokratie
Nachdem der Belgisch-Deutsche-Konvent 2023 in Belgien (Brüssel) und 2024 in Westdeutschland (Frenswegen) getagt hatte, kam er dieses Jahr in Ostdeutschland zusammen. Seit über 60 Jahren treffen sich protestantische Christen und Christinnen an wechselnden Standorten. So begann eine europaorientierte und grenzübergreifende Begegnung, die bis heute andauert. Aktuelle gesellschaftliche Fragen stehen dabei im Mittelpunkt des Austauschs, so auch in diesem Jahr, in dem sich der Konvent mit dem Thema „Vom Umgang mit den Krisen der Demokratie“ befasste.
Zunehmend gerät die Demokratie unter Druck. Das Vertrauen in die etablierten Parteien schwindet, extreme Parteien haben Zulauf, Polarisierungen nehmen in besorgendem Ausmaß zu. Auf der Tagung wurde die Situation in Belgien und in Deutschland genauer betrachtet und analysiert und gefragt, ob und wie Kirche und Gemeinde die Demokratie stärken, fördern und schützen kann.
Die Tagung fand im Evangelischen Allianzhaus Bad Blankenburg in Thüringen statt. Das Allianzhaus wurde 1886 gegründet und besteht heute aus einem Ensemble von mehreren Gebäuden für Tagungen und zum Übernachten.
Es gibt auch ein Café und ein Hotel. Da das Ensemble am Hang gebaut ist, lässt sich von dort der Blick über den Ort, auf die lutherische Kirche und die gegenüber- liegenden bewaldeten Anhöhen des Thüringer Waldes genießen.
Bemerkenswert ist die alte Konferenzhalle, in der jährlich etwa 2500 Teilnehmende zur Allianzkonferenz zusammenkommen können. In Hochzeiten waren es sogar 5000 Teilnehmende.
Wir waren „nur“ 35 Konventsteilnehmende aus Belgien und Deutschland, die in Vorträgen, Diskussionen und Arbeitsgruppen das Thema aus verschiedenen Perspektiven angingen.
Superintendent Michael Wegner und Präses Christiane Linke des Kreiskirchenrates begrüßten den Konvent im ländlichen Kirchenkreis Rudolstadt-Saalfeld, zu dem rund 26.000 Mitglieder und 146 Kirchengebäude gehören. Die kleinste dörfliche Gemeinde besteht aus 12 Mitgliedern. In vielen Orten ist die Kirchengemeinde neben der Feuerwehr die letzte verbliebene Institution. Wegner berichtete von einem Gefühl des Abgehängtseins, das sich verstärkt habe. Dies habe dazu beigetragen, dass die AfD bei den Bundestagswahlen in allen Wahlkreisen die Mehrheit bekam.
Der Evangelische Kirchenkreis Rudolstadt-Saalfeld – Teil der Evangelischen Kirche in Mittel- deutschland (EKM) – hat 14 Tage vor der Wahl eine große Plakat- und Onlineaktion begonnen und vor den Kirchen und auf sozialen Internetplattformen sichtbar und in bunten Farben und prägnanten Sätzen dem Evangelium einen starken Ausdruck verliehen: „Lass dich nicht bequatschen“ (Spr 1,10), „Hab keine Furcht“ (2 Kor 4, 6-10), „Überwinde das Böse mit Gutem“ (Röm 12,21) „Stifte Frieden“ (Matth 5,9) (siehe auch https://www.lassdichnichtbequatschen.de/).
Auch an anderer Stelle engagiert sich der Kirchenkreis und hält das kirchliche Leben in der Fläche aufrecht durch einen „ehrenamtlichen Stellenplan“, zu dem rund 60 Musiker und Musikerinnen und 30 Prädikanten und Prädikantinnen gehören. Am Tag des offenen Denkmals wurde in allen Kirchen ein Gottesdienst gefeiert. Dazu war ein Liturgieheft erstellt worden „Orientierung – Wertvoll und unersetzlich“, das auch an den Orten, wo es keine Hauptamtlichen mehr gibt, von Ehrenamtlichen gelesen werden konnte.
Ein Projekt, bei dem durch „wandernde Musiker“ Orgelunterricht in der eigenen Kirche vor Ort angeboten wird, findet Zuspruch von Jugendlichen in den Dörfern. Trotz des demografisch bedingten Mitgliederschwunds sei die Stimmung in den Kirchengemeinden positiv, so Linke.
Der erste Vortrag von Dr. Cynthia Freund-Möller, wissenschaftliche Referentin am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, zeigte die Merkmale eines Vibe Shifts auf. Das ist der Wandel kollektiver Stimmung, Sprache, Ästhetik und Deutungsmuster, die aktuell antidemokratisch kippen. Die Willkommenskultur von 2015 hat sich zu einer Ablehnungskultur 2025 entwickelt. In Thüringen ist eine extrem rechte Normalisierung im Alltag zu beobachten. Freund-Möller zeigte dabei nicht nur globale Allianzen auf, sondern auch wie die ideologischen und digitalen Dynamiken mitten hinein wirken in Schulen, Kirchen und Jugendgruppen. Dies stelle eine besondere Herausforderung für die Kirche dar. Wie auch Wegner betonte sie, wie wichtig es sei, statt Moralisierung und Belehrung eine christliche Haltung sichtbar zu machen. Anhand von Beispielen führte sie aus, wie Initiativen wie „Kirche stärkt Demokratie“ Räume öffnen können für Gespräche und für eine demokratische Kultur, in der Gemeinden Haltung entwickeln können.
Professor em. Koen Geens, Belgischer Justizminister a.D., per Video zugeschaltet, beobachtet eine Verschiebung der Christdemokraten nach rechts. Demokratie und das Einhalten von gesetzlichen Regeln seien ein Ergebnis von Erziehung und Bildung. Schon in der Schule müsse es darum gehen, Regeln zu lernen, um miteinander zu leben. Aus juristischer Sicht analysierte er die Spannungsfelder zwischen Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Demokratie und Gesetz und stellte die spannende Frage, was im Falle eines Konflikts stärker sei: die Demokratie oder die Rechtsstaatlichkeit. Die Gefahr sei, dass sich Bürger und Bürgerinnen im Ausnahmezustand wie Konsumierende verhalten, die keine Verantwortung übernehmen. Geens betonte nachdrücklich, wie wichtig es sei, in heiklen Situationen die Freiheit zu schützen. Im Extremfall, wenn z.B. Hassreden zu Gewalt führen, müsse die Religionsfreiheit oder Meinungsfreiheit sanktioniert werden. Zum Schluss zog er das Fazit: „Rechtsstaatlichkeit hat unter demokratischer Kontrolle bessere Überlebenschancen.“
Der Dekan der Fakultät für Protestantische Theologie und Religionswissenschaftlern in Brüssel, Prof. Dr. Johan Temmerman, analysierte die Krisen der Demokratie mit Hilfe einer Ellipse mit den Brennpunkten „Populismus“ und „Identität“ und zeigte auf, wie paradox ihr Verhältnis zueinander ist: Während die einen die Identität des eigenen Volkes betonten, lehre die Postmoderne, dass die Vielfalt die Identität des Volkes bilde. Die Krise der Demokratie entfalte sich in einem Sinnvakuum, in dem Wahrheiten fließend geworden sind. Zur Überwindung der demokratischen Krise plädierte er dafür, aus kirchlicher und theologischer Perspektive deutlicher einzutreten für den Dialog und vor allem für die Bereitschaft zum Zuhören. Die Grundlage der christlichen Tradition, dass alle Menschen in Christus Brüder und Schwestern sind, fördere Gleichheit und inklusives Zusammenleben und könne als ein Vorbild für demokratische Entscheidungsfindung dienen.
Der Beauftragte der Evangelischen Kirchen in Hessen, Oberkirchenrat Pfarrer Dr. Martin Mencke zeigte das Verhältnis der Evangelischen Kirche zur Demokratie auf, von der jüngsten Krise der Kirchen mit der CDU bis hin zu der Demokratiedenkschrift aus dem Jahr 1985, in der die Demokratie gewürdigt wird als eine Staats- und Herrschaftsform, basierend auf der Würde des Menschen. Heute stelle sich angesichts des erstarkenden Populismus die Frage: Mit wem spricht man? Mit wem nicht? Unter welchen Bedingungen sind Gespräche möglich mit Menschen, die andere ausgrenzen? Er verwies auf die Initiative der „Verständigungsorte“ von Kirche und Diakonie, wo Menschen zusammenkommen und unterschiedliche Ansichten diskutieren und verstehen und wo Brücken zwischen verschiedenen Meinungen entstehen können. Sie sollen aber kein Podium bieten für die, die sich nicht auf Toleranz und Gespräch einlassen können. Mencke sagte sehr deutlich – und gab damit auch die Position des Konventes wieder: „Die Menschenwürde ist christlich nicht verhandelbar.“ Er forderte zudem eine kritische Solidarität mit politischen Mandatsträgern und Mandatsträgerinnen.
In Arbeitsgruppen wurden die Vorträge und Fragen aufgegriffen und vertieft. Dabei ging es immer um die Frage, wie die Kirche Demokratie stärken, den Dialog fördern und ihre Botschaft der Nächstenliebe hörbar und sichtbar machen kann. Kirche muss sich mehr öffnen und einbringen. Dies geschieht schon durch Kirchenmobile, Kultur und Diskussion in den Kirchen und auch digital.
Sehr ermutigend waren die Rückblicke von Bischof i.R. Axel Noack, ehemaliger Bischof der evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, auf die gewaltfreie Revolution der DDR 1889/1990 und von der thüringischen Ministerpräsidentin a.D. Christine Lieberknecht, die sich als Christin aktiv in der Demokratie engagiert.
Der Konvent machte auch einen Ausflug nach Rudolstadt und besuchte dort die Andreaskirche mit ihrem reichen ornamentalen und figürlichen Schmuck.
Der Abschlussgottesdienst in der lutherischen Stadtkirche St. Nicolai in Bad Blankenburg ermutigte zum Glauben auch und gerade dann, wenn die Welt verrücktspielt. Andreas Martz (Priester der Neuapostolische Gemeinde Gera, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Gera) betonte in seiner Predigt, die Wirksamkeit der Liebe, die Böses überwinden kann.
Deutlich wurde auf der Tagung: Zuschauen ist gefährlich. Es darf nicht sein, dass extreme Positionen normal werden.
Als Christen und Christinnen erheben wir unsere Stimme, wenn Menschen diskriminiert werden. So hieß es im Gebet zum Abschluss des Konventes:
Unsere Hände sind Instrumente des Friedens, um das, was zerstört wurde, wieder zusammenzufügen, um das, was zerbrochen wurde, wiederaufzubauen, um die Verwundeten zu heilen, um zu segnen, anstatt zu verfluchen.
Wir bitten um Gerechtigkeit und Frieden auf der ganzen Erde.
Pfarrerin Bärbel Büssow, Beauftragte des Kirchenkreises Aachen für die Euregioarbeit
Bild: ChatGPT